Ekaterina Glikman ist eine der Gründerinnen und die erste stellvertretende Chefredakteurin des russischen Exilmediums „Novaya Gazeta Europe”, einer im April 2022 gestarteten Online-Plattform. Sie lebt derzeit in der Schweiz. Zuvor war sie über 20 Jahre lang für die unabhängige russische Zeitung „Novaya Gazeta” tätig. Dieses Interview stammt aus der 13. Ausgabe von Mediation mit dem Namen „Strukturierung des Exiljournalismus in einer autoritäreren Welt“, die Sie hier finden.
Novaya Gazeta war über 30 Jahre lang Russlands grösstes unabhängiges Medienunternehmen und eine der letzten überlebenden Publikationen im Lande, die den Kreml zur Rechenschaft zog. Was hat Sie dazu bewogen, im Exil zu arbeiten?
Ekaterina Glikman: Seit Putins Machtantritt wurden sieben Mitarbeitende von Novaya Gazeta ermordet, weil sie ihre Arbeit gemacht haben, aber die Zeitung hat trotzdem weitergemacht. Nach dem von Putin beschlossenen Beginn der russischen Invasion in der Ukraine im Februar 2022 und nach der von ihm im März 2022 verhängten Militärzensur gibt es in Russland keine Pressefreiheit mehr. Unsere Logik ist: Wenn es nicht möglich ist, die Russen in Russland mit wahrheitsgemässen Informationen zu versorgen, dann muss dies aus dem Ausland geschehen. Die Menschen sollten nicht mit der Propaganda allein gelassen werden. Das hat niemand verdient. Mindestens die Hälfte der Bevölkerung ist gegen den Krieg, aber sie kann ihre Meinung nicht äussern und wird nirgendwo vertreten. Unabhängiger Journalismus ist ihre einzige Stimme und Verbindung zu echten Informationen, zum Rest der Welt.
Wie berichten Sie von aussen: Wie erhalten Sie Zugang zu zuverlässigen Informationen und wie halten Sie die Verbindung zu Ihrem Publikum aufrecht?
Es gibt viele Reporter, die in Russland geblieben sind, obwohl sie dort in Gefahr sind. Sie arbeiten heimlich für uns. Wir verbergen ihre Persönlichkeiten unter Pseudonymen. Wir verbergen sie sogar vor unserem eigenen Team. Die Reporter, die am meisten gefährdet sind, sind nur einem oder zwei Mitgliedern unseres Teams bekannt. Wir versuchen auch, unsere Informationsquellen vor Russland so weit wie möglich zu schützen. Wir prüfen auch Dokumente und versuchen, staatliche Desinformation mit Fakten zu kontern. Ich mache mir grosse Sorgen um meine Kollegen und Informanten in Russland. Jedem von ihnen drohen Jahre (und sogar Jahrzehnte) Haft für die Zusammenarbeit mit unseren Medien, da wir in Russland als „unerwünschte Organisation”, d.h. als Kriminelle, eingestuft werden. Und die mutigen Menschen, die uns mit Informationen aus den von russischen Truppen besetzten Gebieten der Ukraine versorgen, setzen ihr Leben aufs Spiel.
Unser Ziel ist es, das russische Publikum mit faktenbasierter Berichterstattung zu erreichen, um der Zensur, Propaganda und Desinformation des Kremls entgegenzuwirken. Unsere Leser in Russland umgehen Blockaden (natürlich ist auch unsere Website blockiert!) mit Hilfe von VPN-Diensten. Wir nutzen auch soziale Medien, die in Russland noch nicht blockiert sind (z.B. Telegram und YouTube), um die Russen zu informieren und zu sensibilisieren. Und dann gibt es da noch ein ganz exotisches Beispiel: Innerhalb von zwei Jahren haben wir Newsletter für russische Gefangene verfasst und uns hinter Gittern einen guten Ruf erworben, wodurch wir dann das erste Medienorgan waren, das die Welt über die Einzelheiten des Todes von Alexej Navalny informieren konnte. In dieser abgelegenen Kolonie in der russischen Arktis hatten wir auch Leser, und diese wurden dann zu unseren Informationsquellen.
Was sind die psychologischen Auswirkungen der Berichterstattung im Exil?
Die meisten unserer Journalisten verliessen über Nacht das Land. Seitdem berichten sie sieben Tage die Woche hauptsächlich über den Krieg in der Ukraine und die Repression in Russland und verlassen kaum noch die Redaktion. Unsere 70 Reporter sind sehr jung und leben seit zwei Jahren im Exil, ohne Aussicht auf eine Rückkehr nach Russland. Sie wissen nicht, wann sie ihre Verwandten und Eltern wiedersehen werden, und das ist sehr schwer für sie. Das Erkennen ihrer psychologischen Probleme ist ebenso wichtig wie die Gewährleistung ihrer physischen Sicherheit.
Die digitale Überwachung von Journalisten im Exil wird immer alarmierender. Wie gehen Sie mit dieser Situation um?
Hier gibt es zwei Aspekte. Wir haben uns bereits daran gewöhnt, von den russischen Behörden bedroht zu werden. Leider stehen auch die westlichen Geheimdienste unserem Staat nicht nach: Auf den Geräten von Exiljournalisten wurde Pegasus-Spionagesoftware gefunden. Diese zweite Tatsache hat uns zu gesunden Skeptikern gemacht.