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„ICH MUSSTE IN DREI MONATEN SECHSMAL FLIEHEN”

„ICH MUSSTE IN DREI MONATEN SECHSMAL FLIEHEN”

Die palästinensische und ägyptische Journalistin Youmna El Sayed ist Korrespondentin für Al Jazeera English in Gaza. Sie lebt seit Januar 2024 im Exil in Kairo und erzählt von den Gefahren, die sie als Reporterin und Mutter in einem für die Zivilbevölkerung tödlichen Konflikt überwinden musste und wie sie versucht, sich zu erholen.

„Ich lebte mit meinem Mann und unseren vier Kindern im Alter von 12, 11, 8 und 5 Jahren in Gaza-City. Als Anfang Oktober der Krieg ausbrach, wurden wir willkürlich bombardiert und wussten nicht, welcher Ort sicher sein würde. Als Journalisten wurden wir von den israelischen Streitkräften direkt angegriffen, um die Berichterstattung zu unterbinden. Unsere Büros, Häuser und Wohnviertel waren das Ziel gezielter Angriffe. Innerhalb von drei Monaten musste ich mit meiner Familie sechsmal fliehen. Nachdem wir zu Beginn des Krieges in den Süden des Wadi Gaza evakuiert worden waren, beschlossen wir, in unsere Wohnung in Gaza-City zurückzukehren: Im Süden fehlte es an Wasser und Strom, und wenn wir schon sterben sollten, dann wenigstens in Würde. Ein anderes Mal mussten wir nach Khan Younes fliehen und dabei sechs bis sieben Kilometer mit meinen Kindern durch eine Gegend laufen, in der Schiessereien stattfanden und wo die Leichen ganzer Familiengruppen auf der Strasse lagen. Als wir dann Anfang Dezember in Rafah ankamen, kam der Winter; es gab keine warme Kleidung mehr zu kaufen, mein jüngstes Kind fror. Dank meines Vaters, der in Ägypten Druck ausüben und viel Geld zahlen konnte, gelang es uns schliesslich, nach Kairo evakuiert zu werden. 

Jetzt versuche ich, mich auszuruhen und mich körperlich und geistig wieder aufzubauen. Ich habe immer noch eine Stelle bei Al Jazeera, sie lassen mir Zeit, mich zu erholen. Aber ich kann nicht berichten, weil Al Jazeera keine Lizenz für die Arbeit in Ägypten hat. Meine Situation und meine Zukunft sind sehr ungewiss. Der gesamte Gazastreifen ist zerstört und unbewohnbar geworden: Es gibt keine Strassen, Krankenhäuser und Schulen mehr. Nachdem sie ein ganzes Jahr verloren haben, wissen meine Kinder immer noch nicht, ob sie im September in Ägypten oder anderswo zur Schule gehen werden. Vor allem aber versuche ich, meine Schuldgefühle als Überlebende zu überwinden und zu heilen: Ich habe mein Bestes gegeben, um aus dem Gazastreifen zu berichten, aber irgendwann habe ich als Mutter beschlossen, weg zu gehen, um meine Kinder zu retten. Jetzt halte ich es für wichtig, Konferenzen und Interviews zu geben, um weltweit das Bewusstsein für die Situation in Gaza zu schärfen. Viele meiner Kollegen, die heute noch in Gaza arbeiten, mussten wieder in die Innenstadt ziehen, um im Al-Aqsa-Krankenhaus zu arbeiten, nachdem sie aus Rafah evakuiert worden waren. Sie arbeiten weiterhin unter katastrophalen Bedingungen, nur mit dem Allernötigsten.”

Dieser Auszug stammt aus der 13. Ausgabe von Mediation mit dem Titel „Strukturierung des Exiljournalismus in einer autoritäreren Welt“, die Sie hier finden