Daniele Perissi ist zuständig für das Programm „Grands Lacs” (Grosse Seen) der schweizerischen NGO TRIAL International, die Opfer internationaler Verbrechen dabei hilft, Gerechtigkeit zu erlangen. Er erklärt, wie sich die internationale Gerichtsbarkeit und ihr Verhältnis zu den Medien in der Demokratischen Republik Kongo derzeit neu erfindet. Dieser Artikel und das Interview sind unserer 12. Publikation "Mediation" entnommen, die Sie unter diesem Link finden.
Der IStGHR und die Untersuchungen des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in der Demokratischen Republik Kongo haben es mit sich gebracht, dass in der Region Grosse Seen die internationale Gerichtsbarkeit bis Mitte der 2010er Jahre sehr aktiv war. Trifft dies heute noch zu?
Daniele Perissi: Ja, aber angesichts der Schwerfälligkeit der Untersuchungen des IStGH hat die kongolesische Militärjustiz in der jüngsten Zeit Erfindungsreichtum und Effizienz bewiesen und sich mit mehreren internationalen Verbrechen befasst. Im September 2021 hat das Militärgericht von Südkivu einen Milizenführer zu einer lebenslangen Haftstrafe wegen Massenverbrechen, darunter Umweltverbrechen, verurteilt, und zwar in einem Fall terrorgestützter Ausbeutung natürlicher Ressourcen im Nationalpark Kahuzi-Biega, der zum Unesco-Weltkulturerbe gehört. Das Gericht hat ihn auch wegen Zerstörung von Schutzgebieten verurteilt. Sechs Monate zuvor hatte die kongolesische Militärgerichtsbarkeit einen Kommandanten des bewaffneten Aufstands von Kamuina Nsapu zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Dieser hatte zwischen 2016 und 2019 in der Provinz Kasai Kriegsverbrechen begangen. Die Richter hatten 232 erklärten Opfern Wiedergutmachungsleistungen zugesprochen und anerkannt, dass auch der kongolesische Staat eine Teilverantwortung trägt, da er nicht genug getan habe, um die Zivilbevölkerung zu schützen. Schliesslich hat die kongolesische Militärgerichtsbarkeit 2017 elf Milizsoldaten zu lebenslanger Haft verurteilt, die zwischen 2013 und 2016 im Dorf Kavumu (Südkivu) rund vierzig Vergewaltigungen an Mädchen im Alter von zwei bis zwölf Jahren begangen hatten. Das Gericht ist der Ansicht, dass die Verbrechen, auch wenn sie über einen langen Zeitraum hinweg verübt wurden, in einem Zusammenhang stehen, und betrachtet sie als einen systematischen Angriff gegen die Zivilbevölkerung, der als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu werten ist.
Diese Verfahren vollziehen sich in Form eines Wandergerichts. Diese Wandergerichte tagen nicht im Gerichtshof einer grossen Stadt, sondern in den von den Verbrechen direkt betroffenen Gegenden. Das gesamte Gericht mit seinen Staatsanwälten, Gerichtsschreibern, Anwälten und den Beschuldigten begibt sich dabei in die unmittelbare Nähe der Opfer.
TRIAL International unterstützt die Opfer dieser Verbrechen. Was erwarten Sie von den Medien?
Dass die Prozesse in unmittelbarer Nähe zu den Opfern, fernab der grossen Städte, stattfinden, ist sicher von Vorteil. Die Schwierigkeit dieser Wandergerichte besteht aber darin, dass sie an Orten stattfinden, die nicht erschlossen sind und somit für die kongolesischen Journalist:innen nur schwer zugänglich sind. Darum haben wir uns dafür entschieden, diese zu informieren und ihnen Zugang zu den Prozessorten zu verschaffen. So können sie über die Prozesse berichten und die gesamte Bevölkerung kann diese mitverfolgen und nachvollziehen. Die internationalen Medien spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Ein sehr gut dokumentierter Artikel in der amerikanischen Zeitschrift «Foreign Policy» hat in der Angelegenheit Kavumu den kongolesischen Staat dazu gebracht, eine nationale Untersuchung einzuleiten. Vielmehr wollte dieser die Augen vor den Verbrechen verschliessen, um sich von dem Etikett "Welthauptstadt der Vergewaltigung“ zu befreien.
Die Prozesse finden manchmal fern des Landes statt, in dem die Verbrechen begangen wurden. So wird der frühere Milizenführer Roger Lumbala demnächst von der französischen Gerichtsbarkeit aufgrund des für sie geltenden „Weltrechtsprinzips“ zur Rechenschaft gezogen.
Er wird verantwortlich gemacht für die äusserst grausame Operation „Effacer le tableau“, die 2002 bis 2003 im Osten der Demokratischen Republik Kongo zahlreiche Opfer gefordert hat. Wir werden eng mit den internationalen und nationalen Medien zusammenarbeiten, damit die Kongoles:innen – insbesondere die indigenen Völker, darunter die Pygmäen des Bezirks Ituri, die von diesen Grausamkeiten besonders betroffen waren – diesen Prozess verfolgen und sich über die Verbrechen informieren können, die in der Demokratischen Republik Kongo nie offiziell anerkannt wurden.
Dieser Artikel ist unserer 12. Veröffentlichung "Mediation" mit dem Titel "Internationale Gerichtsbarkeit und Übergangsjustiz verständlich machen" entnommen, die unter diesem Link verfügbar ist.